„Ungestillt rinnt die Träne um die Erschlagenen unseres Volkes.“

Nachricht 16. Oktober 2019

Auszug aus dem Newsletter der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen: 

Die Bevollmächtigte OLKR Dr. Kerstin Gäfgen-Track schreibt am 16. Oktober 2019:

"Sehr geehrte Damen und Herren,

eine Woche nach dem terroristischen Anschlag auf die Synagoge von Halle, bei dem zwei –nicht jüdische Menschen – starben, möchte ich mit Ihnen Auszüge aus meiner Andacht vor Mitarbeitenden des Landeskirchenamtes in Hannover und der Geschäftsstelle der Konföderation teilen.

ANDACHT
in der Roten Reihe 6

Ungefähr dort, wo heute das Parkdeck des Landeskirchenamtes ist, Richtung Wissenschaftsministerium stand die Synagoge, die 1938 niedergebrannt wurde. Sie war Teil der Meile der Toleranz in der Calenberger Neustadt: die reformierte Kirche, die lutherische Neustädter Hof- und Schlosskirche, dann die Synagoge und schließlich die katholische Clemenskirche. Von Toleranz konnte 1938 schon lange keine Rede mehr sein: Die Synagoge war schon lange isoliert, ihre Mitglieder wurden angefeindet, ausgeraubt, verfolgt, viele waren ihres Lebens nicht mehr sicher, flohen.

Wie genau sich unsere früheren Kolleginnen und Kollegen am 9. November 1938 verhalten haben, wissen wir nicht. Das Landeskirchenamt lag damals auf der anderen Seite der Neustädterkirche dort, wo jetzt der freie Platz ist. Aber die Kollegen werden mitbekommen haben, dass die Synagoge angezündet wurde und dann brannte. Flammen und Flammenschein waren über die Neustädter Kirche hinweg sichtbar. Aber unsere Kollegen haben höchstwahrscheinlich nichts getan, vielleicht zugeschaut und vor allem geschwiegen.
Am nächsten Tag werden sie weitergearbeitet haben, als wäre nichts geschehen, als wäre ihnen nichts geschehen. Dabei war unser christlicher Glauben noch nie ohne den jüdischen zu verstehen, Synagoge und Kirche waren immer schon Schwestern, so wie es die neue Doppelskulptur „ecclesia et synagoga“ vor unserem Haus symbolisiert.

Die Hannoversche Landeskirche war nicht Bekennende Kirche, sondern versuchte, die nationalsozialistisch gesinnten Deutschen Christen rauszuhalten. Sie wollte „intakte Landeskirche“ bleiben. Unsere Kirche versuchte sich selbst zu retten, drehte sich um sich selbst, machte Kompromisse, schwieg, schaute untätig zu, nicht nur wie die Synagoge brannte und hieß vieles gut, was in Wahrheit furchtbar war. Sie weinte wohl keine Tränen über das Schicksal der Juden.

Nach dem Krieg sollte unter städteplanerischen Gesichtspunkten der Neustädter Kirchhof freibleiben, die Landeskirche wollte aber in der Nähe von Landtag und Ministerien ein neues Landeskirchenamt anstelle des im Krieg ausgebombten bauen. Völlig unverständlicher Weise nahm sie das Angebot an, auf dieser Seite der Neustädter Kirche, also da, wo bis 1938 die Synagoge stand, das Amt wieder zu errichten.

Immerhin wurde 1957 nach der Fertigstellung unseres Hauses eine Erinnerungstafel in die Wand der Mauer zwischen dem heutigen Wissenschaftsministerium und dem LKA eingelassen. Darauf steht ein biblisches Zitat nach Jer 8,23
„Ungestillt rinnt die Träne um die Erschlagenen unseres Volkes.“
Damals war der Vers darauf bezogen, dass die Tränen über die Gräuel der Nationalsozialisten und den Holocaust niemals gestillt würden.

Zuletzt nach Halle müssen wir den Vers so lesen, dass Menschen jüdischen Frauen, Männern und Kindern immer wieder so viel seelisches und körperliches Leid antun, dass immer neue Tränen fließen und nicht versiegen können. Seit Jahrtausenden ist der Antisemitismus nicht aus den Köpfen der Menschen herauszuarbeiten, heraus zu argumentieren, auch nicht heraus zu predigen. Im Gegenteil viel zu oft wird er in die Köpfe von Menschen gehämmert, manchmal subtil, oft durch die Verbreitung von Angst und Schrecken, Lüge, Hetze und Hass.

An einem Gymnasium unterrichtet seit vielen Jahren ein Lehrer Geschichte und Religion, der dem „Flügel der AfD“ nahesteht, was öffentlich bekannt ist. Der Mann ist sehr klug, Dienstvergehen können ihm nicht nachgewiesen werden.  Seine Kolleginnen und Kollegen schweigen. So muss eine couragierte Mutter im Jahr 2019 feststellen, dass viele Eltern in der Klasse seines Kindes nicht bereit sind zu versuchen, dass ihre Kinder nicht länger von diesem Mann unterrichtet werden. Schweigen, nicht hinschauen, heimlich oder offen zu sympathisieren – das war nicht nur früher im Dritten Reich so, auch heute handeln Menschen in dieser Weise.
„Vergesst nie“ wurde 1978, als die Tafel in die heutige Gedenkstätte an der Auffahrt zum Parkdeck integriert wurde, in Hebräisch und Deutsch hinzugefügt. „Vergesst nie“: in Hannover wurden bisher 423 Stolpersteine aus Messing für die Menschen, die in ein KZ deportiert wurden, ins Pflaster verlegt, davon 355 für Jüdinnen und Juden. Am Durchgang vom Haus kirchlicher Dienste in die Wagenerstrasse liegt der für Hermann Federmann, ein jüdischer Junge mit geistiger Behinderung, der im Alter von 10 Jahren in einer „Krankenanstalt“ in der Stadt Brandenburg vergast wurde. Nie versiegende Tränen, weil zu den Tränen für Hermann Federmann und die Millionen Opfer des Holocaust immer wieder neue Tränen hinzukommen wie jetzt in Halle.

Die Tat von Halle ist auch deshalb so furchtbar, weil der Täter sich mit seinen Taten insbesondere als ein starker Mann profilieren wollte, auf viel Zustimmung hoffte und Nachahmer generieren wollte. Deshalb stellte er seine menschenverachtenden Texte und dann live seine Tat ins Internet. Er ist Teil einer weltweiten community, die sich gegenseitig zu Hass und auch Mord antreibt gegen Juden, gegen Muslime, gegen das Fremde, gegen Homosexuelle und gegen Frauen. Und gegen uns alle, die wir friedlich unseren alltäglichen Beschäftigungen nachgehen, wie die beiden in Halle Ermordeten, der Mann im Imbiss und die Passantin vor der Synagoge.

Ich habe mich 2017 schwer damit getan, mit welcher Unnachgiebigkeit und Kompromisslosigkeit Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden gegen die Einführung des Reformationstages als Feiertag waren, weil es von Luther harte antisemitische Äußerungen gibt. Ich hatte gehofft, dass kirchliche Schuldbekenntnisse, die klare Kritik an Luthers Antisemitismus und der jüdisch-christliche Dialog eine Toleranz für den Reformationstag als Feiertag mit sich bringen würden. Mittlerweile kann ich besser verstehen, dass die Angst vor einem immer wieder aufbrechenden Antisemitismus, die vielen ungestillten Tränen über immer neue Opfer so stark ist, dass das Vertrauen in gute Zeichen und Solidarität sie nicht überwindet.

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer spricht davon, dass um des Menschen willen, auch insbesondere der Menschen jüdischen Glaubens dem Rad der Diktatur in die Speichen zu fallen ist, damit zu den vielen, vielen ungestillten Tränen nicht immer neue hinzukommen. Beten, Tun des Gerechten hat Bonhoeffer deshalb angesichts der nationalsozialistischen Diktatur gefordert, in seinem Sinn gilt es zu ergänzen: Haltung zeigen und Solidarität üben.
Was heißt das, wenn dafür Beten und Tun des Gerechten ein Weg sind? Beten für unsere jüdischen Mitbürger und Geschwister in dem Glauben an den einen Gott – wir sollten es nicht nur heute tun, sondern immer wieder. So mag es ein Zeichen der Solidarität sein, wenn wir unsere Freitagsandachten für eine bestimmte, eher längere als kürzere Zeit am Mahnmal halten und dazu immer wieder öffentlich einladen: Schweigen, Lesung aus der hebräischen Bibel, Psalmgebet.
Am Vorabend des Reformationstages lädt Landesbischof Meister immer zu einer Veranstaltung im Rahmen des jüdisch-christlichen Gesprächs ein. Nicht nur dieses Jahr sollten möglichst viele von uns hingehen. Alle evangelischen Schulen, nicht nur das evangelische Gymnasium in Nordhorn, sollten versuchen, eine Partnerschule in Israel zu finden. Haltung zeigen und Solidarität üben angesichts der ungestillten Tränen, die wir nie vergessen dürfen.

An einer Stelle führt Bonhoeffer seinen Satz vom Beten und Tun des Gerechten fort „und warten auf Gottes Reich.“ Das Warten auf den einen Gott verbindet Juden und Christen. So heißt es im Jeremia Buch „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und dem Hause Juda einen neuen Bund schließen … und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.“ (Jer 31, 31 und 33b) Dann werden die Tränen von Gott gestillt. Daran halten sich die Menschen jüdischen Glaubens. Wir hoffentlich auch, denn sonst halten wir nicht das Beten und Tun des Gerechten aus. Haltung und Solidarität brauchen Hoffnung."

Dr. Kerstin Gäfgen-Track im Newsletter der Konföderation, 16. Oktober 2019